Interview zu Gender und Diversity im Arbeitsschutz

Warum die Auseinandersetzung mit „Gender und Diversity“ im Arbeitsschutz wichtig ist, diskutieren Vertreter:innen des Arbeitsinspektorates Wien West-Ost und geben dabei Einblicke in die Praxis.

Mit „Gender“ meint man das soziale Geschlecht (im Unterschied zum biologischen Geschlecht) und damit verbunden soziale Erwartungshaltungen (z.B. Rollenverständnisse von Männern und Frauen, die veränderbar sind und dem gesellschaftlichen Wandel unterliegen).

Diversity“ beschreibt die soziale Vielfalt der Menschen, die sich unter anderem durch Geschlecht, kulturelle Prägung, sexuelle Orientierung, Alter und körperliche Verfasstheit ergibt. 


Was hat Gender und Diversity überhaupt mit Arbeitsschutz zu tun? Warum ist es wichtig, dass sich die Arbeitsinspektion mit diesem Thema beschäftigt?

Gender und Diversity in der Arbeitswelt sind Überbegriffe für vielfältige Belegschaften mit unterschiedlichen Bedürfnissen und Belastungsgrenzen. Diese Vielfalt hat es in den Betrieben immer schon gegeben, sie wurde die längste Zeit einfach nicht weiter thematisiert. In den letzten Jahren hat sich in diesem Bereich aber ein gesellschaftlicher Wandel vollzogen und das Thema wurde allmählich präsenter – auch innerhalb der Arbeitsinspektion.

Ein geschärftes Bewusstsein für diese Themen ist für den Arbeitsschutz wichtig, da Schutzmaßnahmen häufig nicht für alle gleich wirksam sind und traditionelle Rollenzuschreibungen einen effektiven Arbeitsschutz erschweren. Grundsätzlich geht es beim gender- und diversitygerechten Arbeitsschutz also darum, Sicherheits- und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz für alle Beschäftigten zu gewährleisten.

Auch für uns Arbeitsinspektorinnen und Arbeitsinspektoren ist der Umgang mit diesem Thema ein konstanter Lernprozess, der manchen schwerer und manchen leichter fällt. Das Thema ist nicht für alle gleichermaßen greifbar und deswegen müssen wir auch innerhalb der Organisation miteinander in Diskussion treten.


Wie erlebt ihr in eurer Außendiensttätigkeit diese Vielfalt? Und welche Herausforderungen und Chancen gehen damit einher?

Eine große Herausforderung sind verständliche Unterweisungen trotz Sprachbarrieren. Ein Beispiel aus der Praxis: Zwei ähnlich große Speditionsfirmen mit sehr hohem Anteil an Mitarbeiter:innen mit Migrationsbiographien konnten Unterweisungen nachweisen. Allerdings gab es erhebliche Unterschiede in der Häufigkeit von Arbeitsunfällen. Es stellte sich heraus, dass die Firma mit weniger Arbeitsunfällen dafür gesorgt hat, dass alle Beschäftigten die Unterweisung und Nachunterweisungen wirklich verstanden haben. In der anderen Firma war das nicht der Fall, stattessen gab es eine große Fluktuation innerhalb der Belegschaft und wenig Aufklärung über Sicherheitsmaßnahmen. Wir haben zudem die Erfahrung gemacht, dass die Verwendung von Bildern, Piktogrammen, leichter Sprache oder die Unterstützung gleichsprachiger Mitarbeiter:innen bei Unterweisungen besonders wirkungsvoll sind.

Eine weitere Herausforderung stellt das teils fehlende Bewusstsein für Arbeitsschutz dar. Oft betrifft das Menschen, die in Ländern aufgewachsen sind, in denen Sicherheit und Gesundheitsschutz am Arbeitsplatz weniger Relevanz haben als hierzulande. Die Arbeitsinspektion ist hier angehalten zu klären, dass die Einhaltung der Regelungen (von Maschinensicherheit bis Ruhepausenregelungen) nicht der Zufriedenstellung der Behörden dient, sondern es in erster Linie darum geht, jeden einzelnen Arbeitsplatz sicherer zu machen. Das ist in weiterer Folge auch für die Wirtschaftlichkeit der Betriebe sinnvoll. Hier ist Überzeugungsarbeit gefragt.  

Positiv hervorzuheben ist, dass immer mehr Unternehmen erkennen, wie wichtig die Beschaffung passender persönlicher Schutzausrüstung (PSA) ist. Nur wenn die Schutzausrüstung wirklich passt, wird sie von den Beschäftigten auch gerne getragen. Mittlerweile gibt es glücklicherweise auch ein umfassendes Angebot an PSA.

 

Warum ist es wichtig, Diversitäts- und Genderaspekte in der Evaluierung von Gefahren und Belastungen (§ 4 ASchG) und bei der Festlegung der Schutz- und Präventionsmaßnahmen zu berücksichtigen? Gelingt das bereits in den Betrieben?  

Bei der Arbeitsplatzevaluierung geht es darum, umfassend Gefahren am Arbeitsplatz zu identifizieren und geeignete Maßnahmen zu deren Vermeidung oder Reduktion zu treffen. Eine Frage, die dabei helfen könnte, wäre z.B.: „Werden Belastungen und Gefahren für unterschiedliche Gruppen unterschätzt oder gar nicht erkannt?" (z.B. arbeitsbedingte psychische Belastungen, schweres Tragen etc). Wir haben des Öfteren festgestellt, dass Männer, die schwere Lasten tragen, mit Hilfsmitteln unterstützt werden, während Frauen oft weniger Unterstützung erhalten. Ihre Lasten sind zwar meistens leichter, aber können aufgrund zahlreicher Wiederholungen und erzwungener Körperhaltungen ähnlich belastend sein.

Wichtig ist auch die Einbindung diverser Personengruppen in die Arbeitsplatzevaluierung. Manchmal kann es für Beschäftigte mit geringen Deutschkenntnissen sinnvoll sein, sich zunächst vertraulich an die Sicherheitsvertrauensperson (SVP) zu wenden. Die SVP kann die identifizierten Gefahren dann an die Führungsebene weitergeben. Auch Nachevaluierungen sind essentiell. Es reicht nicht aus, Musterbögen auszudrucken, auszufüllen und dann im Regal verstauben zu lassen.

Aus unserer Erfahrung fehlt hier in vielen Betrieben noch Bewusstsein, aber es gibt auch immer mehr Positivbeispiele. Die Arbeitsplatzevaluierung ist jedoch sicherlich ein gutes Instrument, um sich überhaupt einmal mit den vielfältigen Gefahren auseinanderzusetzen. Mit der Arbeitsplatzevaluierung kann auch geprüft werden, ob gesetzte Maßnahmen für alle am Arbeitsplatz wirksam sind, z.B. auch für Teilzeitbeschäftigte sowie jüngere und ältere Beschäftigte.

 

Wie geht die Arbeitsinspektion mit dem Thema Gender & Diversity um?

Weiterbildungsmaßnahmen und Schwerpunktaktionen (z.B. „Menschengerechte Arbeitsplätze durch Anwendung von Gender und Diversity im ArbeitnehmerInnnenschutz“ von 2016-2019) haben definitiv dabei geholfen, die Sensibilität für Gender- und Diversityaspekte im Arbeitsschutz auch in den eigenen Reihen zu erhöhen.

Während es im Zentral-Arbeitsinspektorat seit einigen Jahrzehnten einen hohen Frauenanteil gibt, sind die Arbeitsinspektorate auch heutzutage noch eher männerlastig. Das hat auch damit zu tun, dass unser Beruf traditionell eher technisch geprägt war und Frauen in diesem Bereich lange Zeit stark unterrepräsentiert waren. Auch die Arbeitsinspektion hat sich aber mittlerweile geöffnet und das Berufsbild wurde vielfältiger. Wir nehmen diese Veränderung als sehr positiv wahr, nicht nur was die Organisationskultur betrifft, sondern auch die Außendiensttätigkeit. Wir versuchen den derzeit stattfindenden Generationenwechsel bestmöglich in diesem Sinne zu nutzen.  

Mit Sicherheit gibt es aber auch innerhalb der Arbeitsinspektion Verbesserungspotenzial. Dabei sind die Aufbereitung von Fachinformationen in unterschiedlichen Sprachen und eine erhöhte Verständlichkeit von gesetzlichen Vorgaben besondere Anliegen. Klar ist, dass der Lernprozess für uns alle noch lange nicht abgeschlossen ist.  

Ein Gespräch mit Vertreter:innen des Arbeitsinspektorates Wien West-Ost


Letzte Änderung am: 04.07.2023